Am 28.04.2021, ereignete sich im Oberlinhaus in Brandenburg ein schreckliches Verbrechen. Eine Altenpflegehelferin tötete vier Menschen mit Behinderungen, während eine weitere Person schwer verletzt wurde. Die darauf folgende Berichterstattung versuchte, diese tragischen Vorfälle als “Einzelfälle” abzutun, was viele Menschen mit Behinderungen, uns eingeschlossen, zutiefst empörte. Als Reaktion darauf veröffentlichte AbilityWatch e. V. die vorläufigen Ergebnisse des Rechercheprojekts #AbleismusTötet, das Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen in deutschen stationären Einrichtungen dokumentiert. Der Verein wollte nicht nur beweisen, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt, sondern auch die hohe Dunkelziffer beleuchten.
Seit Juli 2021 hat das Team von AbilityWatch e. V.Gewaltfälle im Detail untersucht und bisher 42 Fälle in insgesamt 39 stationären Wohneinrichtungen dokumentiert. Dabei wurden 227 Täter*innen und 210 Betroffene identifiziert. Besonders alarmierend ist, dass vor allem behinderte Frauen Opfer sexualisierter Gewalt wurden, was mit gängigen Erkenntnissen übereinstimmt. Die Literatur zeigt, dass Frauen mit psychischen Erkrankungen oder Lernschwierigkeiten in stationären Einrichtungen ein erhöhtes Risiko für Gewalt erleben. Angesichts von rund 200.000 behinderten Menschen in deutschen stationären Einrichtungen und lediglich 42 öffentlich bekannten Fällen stellt sich die Frage: Wie hoch ist die Dunkelziffer wirklich?
Die Existenz dieser Dunkelziffer wurde AbilityWatch erst bewusst, als sie einen öffentlichen Aufruf starteten, um Informationen über Gewaltfälle zu erhalten, die bisher nicht an die Öffentlichkeit gelangt waren. Zwischen September 2021 und Juli 2022 erhielten die Organisatoren 23 Zuschriften von Menschen, die Gewalt in stationären Einrichtungen selbst erlebt oder beobachtet hatten, darunter 11 von Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen. Diese Mitarbeiter*innen baten um Anonymität aus Angst vor negativen Konsequenzen, von Kündigung bis hin zu Klagen. Einige hatten die Missstände bereits intern gemeldet, wurden aber unter Druck gesetzt, nicht öffentlich darüber zu sprechen. Obwohl in Deutschland Ende 2022 das Hinweisgeberschutzgesetz eingeführt wurde, das Whistleblower*innen vor rechtlichen Konsequenzen schützt, können Gesetze sie nicht vor Mobbing oder sozialer Isolation schützen.
Die Anonymität der Informanten stellte AbilityWatch vor Herausforderungen, da sie die Vorwürfe nicht verifizieren konnten. Dennoch dürfen wir die vielen Menschen, die der Dunkelziffer angehören, nicht weiter ignorieren. AbilityWatch e. V.möchte sie sichtbar machen, Unterstützung bieten und Täter*innen zur Rechenschaft ziehen. In den meisten anonymen Fällen gab es keine angemessenen Konsequenzen für die Täter*innen, was ihnen ermöglichte, unbehelligt weiterhin Gewalt auszuüben.
Ein anonymer Fall zeigt beispielhaft alltägliche Gewalt an acht Bewohner*innen durch mindestens vier Mitarbeiter*innen. Die Opfer, überwiegend Männer mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, wurden gezwungen, stundenlang an einem Tisch zu sitzen und repetitive Aufgaben zu erfüllen. Bei Verzögerungen wurden sie gescholten, grob angefasst und sogar körperlich misshandelt. Diese Gewalt wurde von Gruppenleiter*innen begangen und von anderen Mitarbeitern toleriert oder unterstützt. Die Betroffenen hatten keine Privatsphäre, wurden herabgewürdigt und isoliert.
Solche Fälle verdeutlichen, dass stationäre Wohnformen Gewalt begünstigen. Mangelnde Privatsphäre, Machtungleichgewicht, Isolation von Angehörigen und fehlende Hilfsangebote schaffen einen Nährboden für Gewalt. Die Dunkelziffer bleibt schwer zu quantifizieren, solange diese geschlossenen Systeme existieren. Daher fordert AbilityWatch e. V. gemeinsam mit anderen die langfristige Abschaffung solcher Einrichtungen.