Wie Musik und Medien gefährliche Gewaltfantasien normalisieren – und warum das Leben kosten kann
“Every breath you take, and every move you make, I’ll be watching you.” Ein Ohrwurm von Sting, den Millionen Menschen mitsingen – ohne zu realisieren, dass sie eine Stalking-Hymne grölen. Was in der Popkultur als romantisch verklärt wird, ist in der Realität Beziehungsgewalt. Ein Problem, das weit über einzelne Songs hinausgeht und zeigt, wie tief patriarchale Strukturen in unserer Gesellschaft verwurzelt sind.
Die Playlist des Patriarchats
Journalistin/Psychologin Sonja Peteranderl und die Musikerinnen Maren Kling und Ann Weller haben systematisch recherchiert, welche Songs Beziehungsgewalt verherrlichen. Ihre Erkenntnisse sind erschreckend: Von den Beatles (“Run for your life”) über Elvis (“Western Union”) bis zu modernen Hits wie Maroon 5 (“Animals”) – die Liste ist endlos.
Das Muster ist immer dasselbe: 90 Prozent der Songs erzählen aus der Perspektive der Gewaltausübenden. Obsession wird als große Liebe verkauft, Stalking als romantischer Kampf um das Herz der Angebeteten. “Es gilt als romantisch und stark und eben auch männlich, um jemanden zu kämpfen, auch wenn diese Person Nein sagt”, analysiert Musikerin Maren Kling.
Gefährliche Verklärung mit tödlichen Folgen
Diese Romantisierung ist nicht harmlos. Sie prägt gesellschaftliche Vorstellungen davon, was normal ist – und was nicht. Sonja Peteranderl, die intensiv zu Femiziden recherchiert, warnt: “Viele Betroffene erkennen gar nicht, dass sie Beziehungsgewalt erleben, weil sie diese Stalking-Klischees im Kopf haben.”
Lovebombing, unerwünschte Geschenke, ständige Überwachung – all das wird als Zeichen großer Liebe gedeutet, obwohl es bereits Gewalt ist. Die Popkultur schafft ein gefährliches Narrativ: Wer wirklich liebt, gibt nicht auf. Auch wenn das “Nein” bedeutet.
Strukturelle Gewalt in der Musikindustrie
Dass solche Songs überhaupt ohne Widerspruch produziert werden, verweist auf ein systemisches Problem. Männlich dominierte Führungsetagen, Alltagssexismus und fehlendes Problembewusstsein für gewaltverherrlichende Texte prägen die Musikindustrie. Diese Strukturen spiegeln sich in den Hits wider, die millionenfach gehört werden.
Während Falcos “Jeanny” noch Diskussionen auslöste, werden heute Songs mit ähnlich problematischen Inhalten kommentarlos konsumiert. Ein Zeichen dafür, wie normalisiert Gewaltfantasien in der Popkultur geworden sind.
Perspektivwechsel: Wenn Betroffene zu Wort kommen
Hoffnung macht Nick Caves “Where the Wild Roses Grow” mit Kylie Minogue – ein seltenes Beispiel, in dem sowohl die Perspektive der gewaltausübenden als auch der betroffenen Person gezeigt wird. Solche Songs sind die Ausnahme, nicht die Regel.
Peteranderl, Kling und Weller haben deshalb zwei Spotify-Playlists erstellt: → “Your Stalker’s Playlist” sammelt problematische Songs, → “Change of Perspective” zeigt alternative Perspektiven auf. Ein wichtiger Beitrag, um das Bewusstsein zu schärfen.
Simularchat als Kulturwandel
Die Analyse der Popkultur zeigt, wie tief patriarchale Strukturen unsere Gesellschaft durchdringen. Solange Dominanz und Kontrolle als erstrebenswert gelten, werden Kunst und Kultur diese Werte reproduzieren.
Das Konzept des Simularchats – einer neuen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf Basis echter Gleichberechtigung – könnte auch hier einen Wandel bewirken. In Gemeinschaften, die auf Vertrauen, statt Kontrolle setzen, würden andere Geschichten erzählt. Geschichten von Respekt, Konsens und echter Partnerschaft.
Die Macht der Kultur verstehen
Popkultur ist nie nur Unterhaltung. Sie formt Weltbilder, normalisiert Verhalten und beeinflusst, was wir für akzeptabel halten. Wenn wir eine Zukunft ohne Gewalt wollen, müssen wir auch die Geschichten ändern, die wir uns erzählen.
Der erste Schritt: Bewusstsein schaffen.
Den zweiten: alternative Narrative fördern.
Den dritten: Strukturen verändern, die Gewalt ermöglichen und verklären.
Denn solange “Every Breath You Take” als Lovesong gilt, haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
Dieser Beitrag basiert auf der Recherche von Eva Deinert für Bayern 2/Zündfunk vom 30. Mai 2025