Am 4. Juni 2025 präsentierte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf einer Fachtagung alarmierende Ergebnisse: Die bundesweite “Bedarfsanalyse zur Prävention geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt” offenbart erhebliche Lücken im deutschen Präventionssystem. Die von Forscher*innen des Deutschen Jugendinstituts (DJI), des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts zu Geschlechterfragen (SoFFI) und SOCLES erarbeitete Studie zeigt: Trotz Istanbul-Konvention und neuem Gewalthilfegesetz fehlt es an einer koordinierten nationalen Strategie.
Dramatisches Stadt-Land-Gefälle
Die umfassende Untersuchung, die mit einem explorativen Ansatz Online-Umfragen, qualitative Expert*innenbefragungen und systematische Analysen von Kampagnen und Forschungsliteratur kombinierte, deckt alarmierende regionale Unterschiede auf. Bei der Bestandserhebung in 66 Kommunen zeigte sich: Während Großstädte durchschnittlich 7,5 Präventionsangebote vorweisen, sind es in ländlichen Kreisen nur 2,6. Besonders gravierend: In vielen ländlichen Regionen existieren keinerlei Angebote für Täterarbeit. Eine Frau auf dem Land muss oft stundenlange Fahrtwege in Kauf nehmen, um überhaupt Unterstützung zu finden.
Diese Ungleichverteilung hat fatale Folgen. Gewalttäter erhalten mangels erreichbarer Angebote keine Chance zur Verhaltensänderung, vulnerable Gruppen wie LGBTQ+-Personen oder Frauen mit Behinderungen finden außerhalb der Städte kaum spezialisierte Hilfe.
Deutschland verschenkt Erfolgspotenzial
Der internationale Vergleich fällt vernichtend aus. Während Länder wie die USA oder Kanada seit Jahren Programme wie “Safe Dates” oder “Bringing in the Bystander” mit nachweisbaren Erfolgen einsetzen, fehlt in Deutschland nicht nur die flächendeckende Umsetzung — es mangelt bereits an der Evaluation bestehender Ansätze. Die Forschenden fanden kaum deutsche Studien mit Wirkungsnachweisen. Dies ist fatal, denn Prävention ohne Evidenz kann wirkungslos verpuffen oder sogar schaden.
Zersplitterung statt Zusammenarbeit
Die Analyse der sektorenübergreifenden Präventionsansätze zeigt: Zwar verfügen 85,5 Prozent der Kommunen über Runde Tische zu häuslicher Gewalt, doch nur 27,3 Prozent verfolgen eine übergeordnete Strategie. Die Folge: Polizei, Justiz, Gesundheitswesen und Beratungsstellen arbeiten nebeneinander statt miteinander. Gewaltbetroffene gehen zwischen den Systemen verloren, während verschiedene Träger unwissend ähnliche Angebote entwickeln — eine Verschwendung knapper Ressourcen.
Besonders dramatisch zeigt sich die Fragmentierung im Gesundheitsbereich mit einer Befragungsrücklaufquote von nur 40,9 Prozent. Hier fehlt es an grundlegendsten Strukturen: Während andere Länder längst Leitlinien und standardisierte Verfahren etabliert haben, agiert das deutsche Gesundheitswesen weitgehend orientierungslos.
Schulische Prävention: Große Lücken
Die Bestandserhebung schulischer Prävention offenbart weitere Defizite. Systematische Präventionsstrategien im Sinne der Istanbul-Konvention sind kaum erkennbar. Stattdessen dominieren allgemeine Ansätze zur Gewaltprävention ohne geschlechtsspezifischen Fokus. Gewalt in Teenagerbeziehungen, Zwangsverheiratung oder weibliche Genitalverstümmelung werden — wenn überhaupt — nur randständig behandelt.
Die vergessenen Zielgruppen
57 Prozent der Fachkräfte sehen bei mitbetroffenen Kindern den größten Präventionsbedarf — dennoch existieren kaum spezifische Angebote. Diese Kinder tragen ein erhöhtes Risiko, später selbst Gewalt auszuüben oder zu erleiden. Ähnlich prekär ist die Lage für Menschen mit Behinderungen, die überdurchschnittlich häufig Gewalt erleben, aber kaum barrierefreie Schutzangebote finden. Betroffene digitaler Gewalt — mit 25 Prozent Zuwachs ein rasant wachsendes Problem — stoßen auf ein Hilfesystem, das auf diese Gewaltform nicht vorbereitet ist.
47 Empfehlungen für den Wandel
Über die Hälfte der sechzig-seitigen Kurzfassung widmet sich den 47 konkreten Handlungsempfehlungen, die aus den Erwartungen der Fachpraxis an die Politik entwickelt wurden. Das Unterstützungssystem braucht gesicherte Finanzierung auch für Präventionsarbeit, nicht nur für Einzelfallhilfe. Schulen sollen Gewaltprävention als Pflichtaufgabe in ihre Curricula integrieren. Das Gesundheitswesen benötigt dringend nationale Leitlinien und Koordinationsstellen in allen Kreisen. Polizei und Justiz müssen Risk Assessment-Verfahren flächendeckend etablieren und Täter proaktiv in Behandlungsprogramme vermitteln.
Die Vision: Eine nationale Präventionsstrategie nach dem Vorbild der Frühen Hilfen, bei der Bund, Länder und Kommunen trotz föderaler Strukturen effektiv zusammenarbeiten. Zentral dabei sind Evidenzbasierung und Partizipation — nur wissenschaftlich evaluierte Programme sollen zum Einsatz kommen, entwickelt unter Einbezug von Fachpraxis und Betroffenen.
Zeit zu handeln
Die Befragung von 432 Praxiseinrichtungen zeigt klare Forderungen: 80 Prozent wollen einen gesetzlichen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung, 61 Prozent eine staatliche Koordinierungsstelle. Die Praktiker*innen wissen: Solange Prävention von Projektgeldern abhängt, bleibt sie Stückwerk.
Mit dem Gewalthilfegesetz ist der rechtliche Rahmen geschaffen. Die auf der Fachtagung des BMBFSFJ vorgestellten Ergebnisse müssen nun in konkrete Politik münden. Andere Länder beweisen: Wirksame Prävention ist möglich und rettet Leben. Der Schutz vor Gewalt darf in Deutschland nicht länger vom Wohnort abhängen. Die vorliegende Studie liefert die wissenschaftliche Grundlage für den überfälligen Wandel — es liegt an Politik und Gesellschaft, ihn umzusetzen.
Die die Kurzfassung der Studie “Bedarfsanalyse zur Prävention geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt”, mit allen 47 Handlungsempfehlungen können hier → Kurzfassung bezogen werden.