Wenn in den Medi­en über “Fami­li­en­tra­gö­di­en” berich­tet wird, heißt es oft: “Es gab kei­ne Warn­si­gna­le.” Eine umfas­sen­de Stu­die des Insti­tuts für Poli­zei und Sicher­heits­for­schung (IPoS) zeich­net jedoch ein ande­res Bild. Die For­schung unter Lei­tung von Prof. Dr. Lui­se Greu­el unter­such­te Gewalt­es­ka­la­tio­nen in Paar­be­zie­hun­gen und lie­fert wich­ti­ge Erkennt­nis­se, wie wir als Gesell­schaft Femi­zi­de – Tötun­gen durch (Ex-)Partner – bes­ser erken­nen und ver­hin­dern kön­nen.

Jen­seits der Mythen

Die Stu­die räumt mit meh­re­ren Mythen auf, die lan­ge Zeit die Prä­ven­ti­on erschwert haben:

  1. Mythos: Tötungs­de­lik­te sind die Fol­ge eska­lie­ren­der Gewalt.
    Tat­säch­lich war in fast 40% der unter­such­ten Fäl­le das Tötungs­de­likt die ers­te phy­si­sche Gewalt­hand­lung über­haupt! Nicht die Eska­la­ti­on von Gewalt, son­dern die Eska­la­ti­on eines Kon­flikts und die psy­chi­sche Kri­se des Täters sind ent­schei­dend.
  2. Mythos: Das Risi­ko sinkt nach län­ge­rer Tren­nung.
    Jedes zwei­te Tötungs­de­likt ereig­ne­te sich erst im zwei­ten Tren­nungs­halb­jahr oder spä­ter. Die ers­ten drei Mona­te sind zwar kri­tisch, aber wir müs­sen auch lang­fris­tig wach­sam blei­ben.
  3. Mythos: Es gibt einen “typi­schen Täter”.
    Femi­zi­de ereig­nen sich in allen Bildungs‑, Ein­kom­mens- und Erwerbs­grup­pen. Wich­ti­ger als demo­gra­phi­sche Merk­ma­le sind bestimm­te Ver­hal­tens- und Kon­flikt­mus­ter.

“Lea­king” als Warn­si­gnal

Beson­ders auf­schluss­reich sind die Erkennt­nis­se zum “Lea­king” – einem Phä­no­men, das aus der For­schung zu Amok­ta­ten bekannt ist, aber auch bei Inti­mi­zi­den eine ent­schei­den­de Rol­le spielt. Lea­king beschreibt ver­schie­de­ne Ver­hal­tens­wei­sen, durch die poten­zi­el­le Täter ihre Tötungs­ab­sich­ten vor­ab – oft unbe­wusst – nach außen drin­gen las­sen.

Der Begriff “Lea­king” (zu Deutsch etwa: “durch­si­ckern las­sen”) beschreibt tref­fend, was pas­siert: Wie durch eine undich­te Stel­le sickern Infor­ma­tio­nen über geplan­te Taten in die Umge­bung. Die For­schungs­stu­die des IPoS hat gezeigt, dass in nahe­zu einem Drit­tel aller unter­such­ten Tötungs­de­lik­te die Täter ihre Absich­ten – zum Teil wie­der­holt – gegen­über Bezugs­per­so­nen ange­deu­tet oder offen mit­ge­teilt hat­ten.

Direk­tes Lea­king:

  • Tat­an­kün­di­gun­gen gegen­über der (Ex-)Partnerin
  • Tat­an­kün­di­gun­gen gegen­über Drit­ten wie Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen, Freun­den oder Arbeits­kol­le­gen

Erschre­ckend ist: Die­se direk­ten Ankün­di­gun­gen wer­den vom Umfeld oft nicht ernst genom­men oder als lee­re Dro­hun­gen abge­tan.

Indi­rek­tes Lea­king:

  • Kün­di­gung der Woh­nung
  • Ver­schen­ken von Besitz
  • Ver­fas­sen von Abschieds­brie­fen
  • Äuße­rung von Tötungs­phan­ta­sien
  • Ver­fas­sen von “Todes­lis­ten”
  • Inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit Berich­ten über ähn­li­che Fäl­le
  • Sym­pa­thie­be­kun­dun­gen für Täter in ver­gleich­ba­ren Situa­tio­nen
  • Fata­lis­ti­sche Äuße­run­gen

Das Phä­no­men des Lea­king tritt häu­fig in Ver­bin­dung mit einem psy­cho­lo­gi­schen Pro­zess auf, den Fach­leu­te als “kogni­ti­ve Ein­engung” bezeich­nen. Die­ser Zustand ähnelt einem men­ta­len Tun­nel, in dem der Betrof­fe­ne gefan­gen ist:

  • Die Per­son fixiert sich zuneh­mend auf den Kon­flikt oder die (Ex-)Partnerin
  • Ande­re Lebens­be­rei­che und ‑inhal­te ver­lie­ren an Bedeu­tung
  • Alter­na­ti­ve Lösungs­we­ge wer­den nicht mehr wahr­ge­nom­men
  • Das Den­ken ver­engt sich auf weni­ge, meist destruk­ti­ve Optio­nen
  • Grü­beln und Rumi­na­ti­on neh­men zu, ratio­na­les Den­ken nimmt ab
  • Der All­tag wird von Gedan­ken an den Kon­flikt domi­niert

Die­se kogni­ti­ve Ein­engung mani­fes­tiert sich auch im Sozi­al­ver­hal­ten. Man­che Per­so­nen zie­hen sich voll­stän­dig zurück, kün­di­gen sogar ihre Arbeits­stel­le und bre­chen Kon­tak­te ab. Ande­re hin­ge­gen suchen ver­stärkt sozia­le Kon­tak­te, jedoch nur, um exzes­siv über ihre Pro­ble­me zu spre­chen – nicht, um Lösun­gen zu fin­den, son­dern um ihre destruk­ti­ve Sicht­wei­se bestä­tigt zu bekom­men.

Ein Alarm­zei­chen mit hoher Aus­sa­ge­kraft

Die IPoS-Stu­die kommt zu einem bemer­kens­wer­ten Ergeb­nis: Lea­king ist ein hoch­spe­zi­fi­scher Indi­ka­tor für dro­hen­de Tötungs­de­lik­te – und zwar unab­hän­gig davon, ob der Gefähr­der bereits zuvor kör­per­li­che Gewalt aus­ge­übt hat oder nicht. Wenn Lea­king auf­tritt, ist dies ein deut­li­ches Signal dafür, dass sich eine Per­son bereits im Sta­di­um einer kogni­ti­ven Ein­engung befin­det und auf dem Weg zu einer “fina­len Bank­rott­re­ak­ti­on” sein könn­te – einem Zustand, in dem die Tötungs­hand­lung für den Täter die ein­zig ver­blie­be­ne “Lösung” dar­stellt.

Beson­ders bri­sant: In vie­len Fäl­len ist das sozia­le Umfeld durch­aus über Tötungs- und Ver­nich­tungs­phan­ta­sien infor­miert, unter­schätzt jedoch deren Ernst­haf­tig­keit. Äuße­run­gen wer­den als “lee­re Dro­hun­gen”, “Dampf ablas­sen” oder “nur so dahin­ge­sagt” inter­pre­tiert. Die­se Fehl­ein­schät­zung kann fata­le Fol­gen haben.

Die For­schungs­er­geb­nis­se zei­gen ein­drück­lich: Wenn wir Femi­zi­de ver­hin­dern wol­len, müs­sen wir ler­nen, die­se Signa­le zu erken­nen und ernst zu neh­men. Jedes Lea­king, jede Form der kogni­ti­ven Ein­engung könn­te ein Hil­fe­ruf sein – und eine letz­te Chan­ce zur Inter­ven­ti­on, bevor es zu spät ist.

Die drei typi­schen Ver­hal­tens­mus­ter

Die For­schung iden­ti­fi­ziert drei cha­rak­te­ris­ti­sche Mus­ter bei schwe­rer Bezie­hungs­ge­walt und Tötungs­de­lik­ten:

  1. “Rächen­de Bestra­fung”
    Täter mit hohem Kon­troll­be­dürf­nis, die nach einer Tren­nung ziel­ge­rich­tet han­deln. Ihr Selbst­wert­ge­fühl ist durch den Macht­ver­lust bedroht. Beson­ders gefähr­lich bei nar­ziss­ti­schen Per­sön­lich­keits­struk­tu­ren.
  2. “Kon­flikt­lö­sung durch Ver­nich­tung”
    Ver­zweif­lungs­ta­ten auf dem Hin­ter­grund exis­ten­ti­el­ler Kri­sen, oft beglei­tet von depres­si­ver Ver­stimmt­heit. Häu­fig folgt ein Sui­zid des Täters. Die Tat wird als “Lösung eines Lebens­pro­blems” gese­hen.
  3. “Aku­te Krän­kung”
    Eher impul­si­ve Taten nach aku­ten Krän­kungs­er­leb­nis­sen, häu­fig im Zusam­men­hang mit Eifer­sucht und Alko­hol­kon­sum. Die­ses Mus­ter ist sel­te­ner bei Tötungs­de­lik­ten, häu­fi­ger bei schwe­rer Gewalt.

Was kön­nen wir tun?

  • Dro­hun­gen ernst neh­men – auch in bis­her gewalt­frei­en Bezie­hun­gen
  • Auf Lea­king-Signa­le ach­ten – sowohl direk­te als auch indi­rek­te Hin­wei­se
  • Bei kogni­ti­ver Ein­engung han­deln – wenn jemand “im Tun­nel” ist, braucht er Hil­fe
  • Tren­nungs­si­tua­tio­nen beglei­ten – nicht nur in der Akut­pha­se, son­dern lang­fris­tig

Für Fach­kräf­te und Behör­den bedeu­tet dies, bei Gefähr­dungs­ein­schät­zun­gen nicht nur auf phy­si­sche Gewalt zu ach­ten, son­dern auch auf Bedro­hungs­dy­na­mi­ken und psy­chi­sche Kri­sen.

Für uns alle als Gesell­schaft heißt es, auf­merk­sam zu sein, wenn Men­schen in unse­rem Umfeld Tötungs­ab­sich­ten äußern – direkt oder indi­rekt. Sol­che Äuße­run­gen kön­nen erns­te Warn­si­gna­le sein.

Quel­len:
https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/79795
https://www.hfoev.bremen.de/greuel-luise-prof-dr-3653