Eine neue Dun­kel­feld­stu­die offen­bart das wah­re Aus­maß – und zeigt, war­um wir end­lich han­deln müs­sen
Jede fünf­te Frau, jeder 20. Mann: Das sind die scho­ckie­ren­den Zah­len. Das ergibt eine groß ange­leg­te Dun­kel­feld­stu­die, die das Zen­tral­in­sti­tut für See­li­sche Gesund­heit (ZI) im Rah­men des Deut­schen Zen­trums für Psy­chi­sche Gesund­heit (DZPG) gemein­sam mit füh­ren­den For­schungs­ein­rich­tun­gen in Deutsch­land durch­ge­führt hat. Die Dun­kel­feld­stu­die macht sicht­bar, was viel zu lan­ge im Ver­bor­ge­nen blieb – und belegt ein­drucks­voll, war­um sexua­li­sier­te Gewalt gegen Kin­der ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem ist, das uns alle angeht.

Das Schwei­gen bre­chen: Zah­len, die auf­rüt­teln
12,7 Pro­zent aller Befrag­ten waren als Min­der­jäh­ri­ge von sexua­li­sier­ter Gewalt betrof­fen – hoch­ge­rech­net sind das 5,7 Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land. Die geschlechts­spe­zi­fi­schen Unter­schie­de sind dra­ma­tisch: Wäh­rend 20,6 Pro­zent der Frau­en Miss­brauch erleb­ten, sind es bei Män­nern 4,8 Pro­zent.
Beson­ders alar­mie­rend: Fast die Hälf­te der Betrof­fe­nen wur­de mehr­fach zum Opfer. Der Miss­brauch dau­er­te durch­schnitt­lich drei­ein­halb Jah­re und fand haupt­säch­lich in den frü­hen Teen­ager­jah­ren statt. Über 90 Pro­zent berich­ten von direk­ten kör­per­li­chen Über­grif­fen, jede vier­te Per­son sogar von Pene­tra­ti­on.

Gene­ra­ti­on Inter­net: Neue Gefah­ren, alte Mus­ter
Die Stu­die deckt einen beun­ru­hi­gen­den Trend auf: Jün­ge­re Men­schen (18 – 29 Jah­re) sind häu­fi­ger betrof­fen als älte­re Befrag­te. 27,4 Pro­zent der jun­gen Frau­en gaben an, als Min­der­jäh­ri­ge miss­braucht wor­den zu sein – gegen­über 18,8 Pro­zent in der älte­ren Grup­pe.
Ein Grund dafür: Das Inter­net wird zuneh­mend zum Tat­ort. Rund 18 Pro­zent der Betrof­fe­nen wur­den unge­fragt mit por­no­gra­fi­schem Mate­ri­al kon­fron­tiert, 20 Pro­zent in sozia­len Medi­en sexu­ell beläs­tigt. Die digi­ta­le Welt erwei­tert das Umfeld für Über­grif­fe – und macht Schutz­kon­zep­te kom­ple­xer.

Die Betrof­fe­nen-Per­spek­ti­ve: Männ­lich, bekannt, ver­traut
Über 95 Pro­zent der Täter waren männ­lich und über 30 Jah­re alt. Noch erschre­cken­der: Die meis­ten waren den Betrof­fe­nen bekannt. Als häu­figs­te Stra­te­gie wird das Aus­nut­zen per­sön­li­cher Bezie­hun­gen genannt – ein Befund, der das Ver­trau­en in schein­bar siche­re Räu­me erschüt­tert.
Sexua­li­sier­te Gewalt kennt kei­ne sozia­len Gren­zen. Sie geschieht unab­hän­gig von Sta­tus oder Bil­dung – in der Schu­le, der Fami­lie, in Sport­stät­ten und Frei­zeit­ein­rich­tun­gen. Jedes Kind kann betrof­fen wer­den.

Die Fol­gen: Lebens­lan­ge Schat­ten
Die Aus­wir­kun­gen sind gra­vie­rend: Betrof­fe­ne zei­gen häu­fi­ger psy­chi­sche Belas­tun­gen und kön­nen sel­te­ner ihren Lebens­un­ter­halt selbst bestrei­ten. Über 37 Pro­zent haben noch nie­man­dem von ihren Erfah­run­gen erzählt – aus Scham oder Angst, nicht ernst genom­men zu wer­den.

Was jetzt gesche­hen muss
Die Stu­di­en­au­toren for­dern kon­se­quen­tes Han­deln: wei­te­re For­schung zur Erhe­bung des Dun­kel­felds, insti­tu­ti­ons­spe­zi­fi­sche Prä­ven­ti­ons­kon­zep­te, Sen­si­bi­li­sie­rung ab dem Kita-Alter und stren­ge­re Regu­lie­run­gen in sozia­len Medi­en.
Als Initia­ti­ve Zukunft Ohne Gewalt sehen wir die­se Zah­len als gesell­schaft­li­chen Auf­trag: Deutsch­land braucht flä­chen­de­cken­de Schutz­kon­zep­te, die alle Kin­der errei­chen – unab­hän­gig von Geschlecht, Her­kunft oder sozia­lem Sta­tus. Denn jedes Kind hat das Recht auf eine Kind­heit ohne Gewalt.

Simu­lar­chat: eine Lösung gegen Gewalt­struk­tu­ren
Die Stu­die zeigt: Kin­der­schutz ist mehr als Sym­ptom­be­kämp­fung. Es braucht struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen – weg von patri­ar­cha­len Macht­struk­tu­ren, die Gewalt begüns­ti­gen. Das Kon­zept des Simu­lar­chats – vom latei­ni­schen “simul” (gemein­sam) und grie­chi­schen “arch­ein” (herr­schen) – zeigt einen Weg auf: eine neue Form des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens, in der alle Geschlech­ter gleich­be­rech­tigt Macht und Ver­ant­wor­tung tei­len.
Anders als patri­ar­cha­le Struk­tu­ren, die ein Kli­ma der Kon­trol­le und Über­wa­chung begüns­ti­gen, basiert das Simu­lar­chat auf zen­tra­len Prin­zi­pi­en: gleich­be­rech­tig­te Ent­schei­dungs­fin­dung auf allen Ebe­nen, aus­ge­wo­ge­ne Macht­ver­tei­lung und Wert­schät­zung aller Geschlech­ter. Die­se Grund­sät­ze kön­nen Kon­troll­ver­hal­ten redu­zie­ren und das typi­sche Gefäl­le aus­glei­chen, das oft zur Recht­fer­ti­gung von Gewalt dient.
In simu­lar­chi­schen Gemein­schaf­ten ver­lie­ren Kon­trol­le und Über­wa­chung – digi­tal wie phy­sisch – ihren Nähr­bo­den. Wenn wir gesell­schaft­li­ches Zusam­men­le­ben schaf­fen, das auf Ver­trau­en statt Domi­nanz setzt, kön­nen wir die Grund­la­gen besei­ti­gen, auf denen Gewalt gegen Kin­der gedeiht. Dies gilt für alle Bezie­hungs­for­men: von der Fami­lie über Bil­dungs­ein­rich­tun­gen bis hin zu digi­ta­len Räu­men.
Der Weg zu einer Zukunft ohne Gewalt beginnt mit dem Mut zur Wahr­heit, dem Wil­len zur struk­tu­rel­len Ver­än­de­rung und dem Auf­bau einer Gesell­schaft, die ech­te Gleich­be­rech­ti­gung lebt.

Die­ser Bei­trag basiert auf dem Arti­kel von Car­la Baum, ver­öf­fent­licht am 2. Juni 2025 unter www.zeit.de